Leben nach der Pandemie

Mai 12, 2020

Ein geopolitischer Leitfaden zur Beurteilung von pandemiebedingten Veränderungen bei internationaler wirtschaftlicher Tätigkeit

1 – Einführung: Markt und Marktplatz

Covid-19 zeigte uns allen drastisch, dass jeder physische oder digitale Markt, eingeschlossen jener für Finanzflüsse, auf einem realen Marktplatz stattfindet. Wird der Marktplatz gestört, wird auch der Markt in Mitleidenschaft gezogen. Dessen Betrachtung muss also auch die Beobachtung des Marktplatzes einschliessen. Was politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich – also geopolitisch – auf dem Marktplatz passiert, wird sich auch auf den Markt auswirken.

2 – Strategische und politische Veränderungen

Im Gegensatz zu den Katastrophen vergangener Jahrhunderte (Pest, Kriege) hat das Virus keinen demographischen Einschnitt gebracht, wohl aber globalstrategische Auswirkungen. Wie sehen diese in den grossen Weltregionen aus?

2.1. Demographie: Die Pest im 14. Jahrhundert, der Dreissigjährige Krieg im 17. Jahrhundert und die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert hatten demographische Auswirkungen, welche die Welt veränderten. Das trifft rein zahlenmässig auf die Pandemie nicht zu, aber ihr Verlauf an verschiedenen Orten der Welt wird eine Anzahl politischer und strategischer Folgen haben.

2.2 Asien: Das ‘Asiatische Jahrhundert’ wird weiter stattfinden, aber allenfalls nationalistischer und antagonistischer als vor der Pandemie. Dies insbesondere im Verhältnis China -USA, was wiederum zahlreiche asiatische Staaten zwingen wird, klarer Stellung zu beziehen. Indien als dritte Kraft erscheint geschwächt, aber Japan wird stärker. Australien erscheint ebenso gestärkt.

2.3. Mittlerer Osten und Nordafrika: Die Pandemie wird den Antagonismus Schia (Iran) – Sunna(Saudi-Arabien) nicht aufheben, aber allenfalls die beidseitige Konfliktbereitschaft abdämpfen.

2.4. Schwarzafrika: Die Pandemie als sanitarische, humanitäre und wirtschaftliche Katastrophe dürfte den durch Konflikte eingeschlossen Terrorismus, Klimaveränderung und Bevölkerungszuwachs ohnehin geschwächte Kontinent noch weiter von nachhaltiger Entwicklung entfernen.

2.5. Europa: Die Pandemie und die verschiedenen nationalen Reaktionen darauf, innerhalb ( Ungarn) und ausserhalb (China, USA von Trump), stellen die EU nach der Bewältigung der Wirtschaftskrise vor die Herausforderung, sowohl ihren demokratisch-rechtstaatlichen Führungsanspruch zu konsolidieren als auch eine eigene sicherheitspolitische Identität zu entwickeln. EU-Mitglied oder nicht, für die Schweiz stellt sich diese Herausforderung gleichermassen.

2.6. Die beiden Amerika: Die Abkehr von der übrigen Welt der seit dem 2.Weltkrieg global führenden USA hat sich unter Trump aus ideologischen Gründen (‘America first’) verstärkt, wird sich allerdings, allein schon budgetbedingt auch unter einem Demokraten im Weissen Haus fortsetzen. Das Versagen nicht nur in der Pandemiebekämpfung der beiden in dieser Hemisphäre dominanten gegenwärtigen Regierungen in den USA und Brasilien wird politische Konsequenzen haben.

3 – Veränderungen in der Weltwirtschaft

Der Staat wird generell in der Wirtschaft eine stärkere Stellung einnehmen. Pandemiebekämpfung konnte und kann nur er, was im Moment der Katastrophe von allen, von links bis rechts auch akzeptiert worden ist. Die ja schon vor der Pandemie immer lauter werdenden Stimmen, auch und gerade die Privatwirtschaft müsse sich vermehrt für das Wohl aller stakeholder tätig sein, werden sich verstärken.

3.1. Fiskalpolitik und Regulierung: Der Staat wird in der Steuerpolitik und in der Regulierung stärker in das private Wirtschaftsgeschehen eingreifen.

3.2. ESG (Environment, Social, Governance): Ein gewisses pandemiebedingtes Umdenken mit Blick auf Klima- und Sozialpolitik sowie verantwortungsbewusster Unternehmensführung ist voraussehbar. Die Gewichtung von Berufskategorien dürfte sich ändern.

3.3. Technische Anpassungen: Veränderungen in den internationalen Wertschöpfungsketten sind voraussehbar.

3.4. Bedeutsame regionale Veränderungen: Diese werden stattfinden in Asien (neue Seidenstrasse Chinas), in Europa (Solidarität, Binnenmarkt), in den Entwicklungsländern (Verschuldung) und in den Ölstaaten (Diversifizierung).

4 – Die Gesellschaft

Das Virus stellt auch eine ethische und ideologische Herausforderung dar. Wird die pandemiebedingte Atempause im Weltgeschehen als eine Gelegenheit zur Reflektion verstanden werden? Wird nachgeholt, was bei der Bekämpfung früherer Krisen (spanische Grippe zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Finanzkrise 2008/9) verpasst worden ist? Welche Lehren werden aus der durch die Pandemie explosionsartig wachsenden Digitalisierung aller Lebensbereiche gezogen? Wer trägt die Verantwortung, und damit auch die Kosten für die Pandemie?

4.1. Wettstreit der politischen Systeme: Werden die Entwicklungsländer auf der Basis ihrer Pandemieerfahrung eher einer Kommando-Gesellschaft (China) oder einem partizipativen Gesellschaftsmodell zuneigen? Die Pandemie stellte Kommunikation und Glaubwürdigkeit der Behörden auf Probe.

4.2. Wettstreit der Weltanschauungen: Haben sich die Gewichte im Wettstreit zwischen National-Populismus sowie religiöser und ideologischer Intoleranz einerseits und andererseits der Verpflichtung zu Rechtsstaat und internationaler Zusammenarbeit durch die Pandemie verschoben?

4.3. Ungleichheit: Werden die finanziellen Massnahmen der Pandemiebekämpfung die durch Globalisierung und die Krisenbewältigung von 2007/8 aufgerissene Wunde zwischen den ‘Ein Prozent’ und dem Rest heilen oder vertiefen?

4.4. Digitalisierung: Durch die Pandemie hat sich die inhärente Spannung zwischen Datenentwicklung und deren Schutz, zwischen physischer sowie mentaler Beschäftigung und der AI weiter verschärft.

4.5. Verantwortlichkeiten: Fragen und Prozesse betreffend Verantwortung, und ihre rechtliche Durchsetzung während der Bekämpfung der Pandemie werden in deren Folge Parlamente und Gerichte beschäftigen.

5 – Ausblick

Die durch das Virus Sars-CoV-2 verursachte Pandemie Covid-19 betrifft alle Länder der Welt und alle Gesellschaftsschichten. Insofern kann die Pandemie durchaus mit einem epochalen Ereignis wie dem Zweiten Weltkrieg verglichen werden. Allerdings sind Gewinner und Verlierer weniger offensichtlich, als dies nach dem Sieg der Alliierten über die Achsenmächte der Fall war. Alles erscheint möglich von einer Rückkehr zur vor-pandemischen Normalität bis hin zum Beginn grundlegender Umschichtungen. Damit sind unserer vorangegangenen Ausführungen nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Serie von ‘educated guesses’.
So wie der Zweite Weltkrieg die Dekolonisierung der Dritten Welt eingeleitet und sich damit Weltpolitik und Weltwirtschaft verändert hatten, sind auch grössere Verschiebungen als Pandemiefolge denkbar. Geopolitische Analyse, gar Voraussage darf damit nie statisch werden, sondern mit dem Lauf der Geschichte fliessen.

Picture: nastya_gepp