China expandiert
Chinas regionale Expansion in Asien ist eine Tatsache und lässt sich an zwei Fronten unwiderlegbar aufzeigen: in Südostasien zur See, im Himalaya-Gebirge zu Land. In Südostasien erfolgt die chinesische Expansion zulasten der Anrainerstaaten des Südchinesischen Meers, im Himalaya zulasten Indiens.
China erhebt seit geraumer Zeit Souveränitätsansprüche über das Südchinesische Meer (South China Sea – SCS). Es hat in den letzten Jahren um einsame Felsgruppen Inseln aufgeschüttet und begonnen, dort militärische Einrichtungen zu bauen. Darauf abgestützt hat es seine Territorialgewässer massiv ausgedehnt und leitet nunmehr einen Souveränitätsanspruch praktisch über die ganze SCS ab. Es verletzt damit auf eklatante Weise die Regeln des für die Weltgemeinschaft verbindlichen Internationalen Seerechts (Law of the Sea) und insbesondere Souveränitätsrechte anderer Anrainerstaaten der SCS wie u.a. Vietnam, die Philippinen und Malaysia. Auf neuesten offiziellen Seekarten der chinesischen Regierung ist die SCS als exklusiv chinesisch markiert. Dagegen haben die Philippinen beim Ständigen Schiedsgerichtshof Klage eingereicht und Recht bekommen. Die internationale Völkergemeinschaft anerkennt die chinesischen Ansprüche also nicht. China greift demnach illegal auf internationale Gewässer und sogar auf Territorialgewässer anderer Staaten aus, etwa so, wie sich in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten aggressive Staaten mit militärischen Mitteln – Invasion, Krieg – Territorien anderer Länder einverleibt haben.
Nun sind territoriale Grenzen zur See schwieriger zu bestimmen und zu verteidigen als zu Lande. Die chinesische Führung spielt bei der Ausbreitung ihrer Ansprüche mit der strategischen Grauzone, die zur See immer existiert. Insbesondere wendet sie ein altes imperialistisches Muster an. Indem sie territoriale Rechte anderer Staaten der Region verletzt, zwingt sie diese, zwischen zwei Reaktionen zu wählen. Entweder diese widersetzen sich chinesischer Anmassung, was zwangsläufig weitere Hegemoniedrohungen auslöst, oder sie schlucken die Provokation widerspruchslos, womit Chinas Hegemonialposition in der Region gestärkt wird. Im Wettlauf um globale Vorherrschaft können nur die USA einer drohenden Gewichtsverschiebung entgegentreten. Sie tun es auch mit der gezielten Demonstration, dass die Regeln der internationalen Seeschifffahrt auch in der SCS gelten. Die US-Navy hält gegen chinesischen Protest die Schifffahrtslinien durch die SCS offen, indem sie durch die internationalen Gewässer fährt.
Der gleichen Zielsetzung der Ausweitung ihrer Einflusszonen dient Beijing die Strategie, die Landgrenze gegen Indien im Hochgebirge des Himalaya zu testen. Die strategisch-operativen Mittel sind jedoch den Bedingungen des Landkrieges angepasst. Die Nachbarn Indien und China haben zuletzt 1962 um die gemeinsame Grenze Krieg geführt. Die militärische Auseinandersetzung endete mit einer traumatischen Niederlage der indischen Armee. Seither halten sich die damaligen Kriegsgegner an eine vereinbarte Deeskalationspolitik und sorgen dafür, dass regelmässig aufflackernde Grenzkonflikte sich nie zu eigentlichen Kriegshandlungen auswachsen. Nun ist inzwischen aber die noch vor dreissig Jahren herrschende ungefähre Parität zwischen den zwei asiatischen Giganten seither in ein Missverhältnis gekippt. Indien hat zwar mit seiner Bevölkerungsgrösse Parität mit China erreicht. Ein deutliches Übergewicht zugunsten Chinas besteht heute jedoch bei den Verteidigungsausgaben; da steht das Verhältnis 3 zu 1. Beim Bruttosozialprodukt lautet das Verhältnis sogar 4 zu 1.
Wenn Parität früher ein Motiv war, sich beidseitig nicht in eine weitere militärische Konfrontation ziehen zu lassen, so können die heutigen Kräfteverhältnisse Beijing nur dazu verleiten, die Grenzen der Expansion auch an der indisch-chinesischen Landgrenze im Himalaya neu zu testen. Und das ist denn auch der strategische Hintergrund für die in jüngster Zeit bedeutsamer gewordenen Grenzkonflikte im Hochgebirge. Es wird immer offensichtlicher, dass nicht nur Indiens militärischer, sondern mehr noch der politische Widerstandswille getestet wird.
Auf den ersten Blick scheint die nationalistische Rhetorik des indischen Regierungschefs Modi anzuzeigen, dass er bereit ist, sich gegen Herausforderungen dieser Art vehementer zu wehren als frühere Regierungen. In Tat und Wahrheit dient Modis Rhetorik jedoch in erster Linie der innenpolitischen Einschüchterung der muslimischen Minderheit, die nun einer zunehmenden hinduistischen Drangsalierung ausgesetzt ist. Die regierende hinduistische Partei BJP ist im Begriffe, das säkulare Erbe der Republikgründer über den Haufen zu werfen, um der Hindu-Mehrheit zu einer Vorrangstellung im Land zu verhelfen. Paradoxerweise setzt Modi mit seiner anti-muslimischen Kraftmeierei im Innern jedoch gleichzeitig sein Land nach aussen höheren Risiken aus. Die Aufhebung des Autonomiestatuts von Kashmir vor einem Jahr ist ein solcher Akt. Er hat die dortige muslimische Bevölkerungsmehrheit vor den Kopf gestossen und damit die delikate Stabilität in diesem Gliedstaat aufs Spiel gesetzt.
Nun erhält der illegitime Anspruch des Nachbarn Pakistan auf Kashmir neuen Auftrieb. Seit Jahrzehnten versucht Pakistan mit terroristischen Mitteln, Kashmir aus der indischen Union herauszubrechen. Nicht nur ist jetzt zu erwarten, dass die muslimische Mehrheit in Kashmir alte pakistanische Ansprüche nicht mehr länger ablehnt, sondern sich möglicherweise in der Not diesen öffnet. Es bahnt sich zudem an, dass sich Pakistan über die strittigen territorialen Ansprüche in und um Nordindien mit China verständigt und damit China einlädt, auch im Norden Indiens eine neue strategische Position einzunehmen und direkt in Kashmir zu intervenieren. Damit würde sichtbar, dass chinesische Positionen im Himalaya an der Grenze zu Indien einem strategischen Plan folgen, der, mit oder ohne sofortige territoriale Gewinne, auf eine Vermehrung von Chinas Einfluss in der Region hinausläuft.
Delhi widersetzt sich dieser Strategie des Nachbarn, ist aber immer weniger in der Lage, mit der dazu benötigten militärischen Aufrüstung Schritt zu halten. Die Covid-19-Pandemie hat zudem in den sechs Monaten seit ihrem Auftreten die materiellen Möglichkeiten der Modi-Regierung drastisch eingeschränkt. Dafür lehnt Indien immer stärker an die strategische Partnerschaft mit den USA an. Dies entspricht der Logik der aktuellen geostrategischen Situation in der Region. Es steht aber zu befürchten, dass Indien je länger desto weniger in der Lage sein wird, seinen Platz in einer erst zögerlich zustande kommenden anti-chinesischen Front in Asien auszufüllen, die bereits aus den USA, Japan und dem neuerdings politisch und militärisch aufrüstenden Australien besteht.
Picture: Chris Goldberg