Donald Trumps „Götterdämmerung“ – geopolitische Sicht auf Washingtons Chaosstunden
Am 6. Januar 2021 schickte sich das amerikanische Parlament an, den Wahlsieg Joe Bidens über Präsident Trump formell zur Kenntnis zu nehmen. An diesem Tag wiegelte Trump in Washington eine riesige Ansammlung seiner Anhänger auf, das Capitol zu stürmen und den laufenden Parlamentsvorgang zu unterbrechen. Die Chaos-Bilder gingen zeitgleich um die Welt, fünf Tote sind bisher zu beklagen, zahllose Strafverfahren wurden eingeleitet, materieller Schaden wird ermittelt und amerikanische Politik quält sich in ausufernden Debatten durch die Fragen, ob Trumps Präsidentschaft noch vor dem 20. Januar beendet werden soll, und wenn ja, wie. Eine der innenpolitischen Klagen betrifft auch die Wirkung, die die Bilder der Chaosstunden auf die Welt haben. Ausländische Regierungschefs werden zitiert, Boris Johnson, Angela Merkel, andere. Alle beklagen den Schaden, den der Ruf der globalen Führungsmacht erlitten hat.
Auffällig ist Nancy Pelosis Sorge und Rückfrage beim obersten amerikanischen Militär, ob es dem noch im Amt stehenden Präsidenten möglich wäre, ungehindert nukleare Waffen irgendwo in der Welt einzusetzen. Präsident Trump wird mittlerweile weitherum als „out of his mind“ erachtet und es wird ihm zugetraut, aus reiner Wut und Rache Zerstörung in die Welt zu tragen. Amerika als Gefahr für die Welt!
Es fehlt bisher eine Debatte über die Auswirkung des Reputationsschadens und der weltweit vermuteten Handlungsunfähigkeit der USA auf die tatsächliche Sicherheitslage des Landes. Diese befindet sich bis zur Funktionsfähigkeit der neuen Regierung in zwei oder drei Wochen in einer kritischen Situation. Der wichtigste Aspekt der Chaos-Bilder aus Washington ist die erkennbare politische Lähmung der obersten Führung in Washington und die daraus abgeleitete Annahme, dass die USA auch weltweit bei der Aufrechterhaltung ihrer strategischen Positionen führungslos sind. Wer damit rechnet, dass amerikanischer Widerstand gegenüber strategischen Herausforderungen gelähmt wäre, kann versucht sein, die „Gunst der Stunde“ für die Ausweitung eigener Interessen zu nutzen.
Chinas Führung, beispielsweise, hat viele solcher Versuchungen. Der ungestörte verstärkte Ausbau chinesischer maritimer Positionen in der South China Sea ist die wahrscheinlichste Option. Ebenso sicher dürfte die anti-demokratische Repression in Hongkong von der Schädigung des amerikanischen Demokratievorbilds profitieren. In allen Weltregionen, die vom Projekt der chinesischen „Seidenstrasse“, der „Belt and Road Initiative – BRI“, erfasst oder angepeilt werden, werden überdies auch amerikanische Gegenpositionen unter verstärkten Druck geraten. Die ganz grosse Versuchung, und damit Kriegsgefahr für die Welt, wäre der Glaube der chinesischen Führung, dass der Moment gekommen sei für eine militärische Operation gegen Taiwan. Es mag zwar ein zuverlässiges Merkmal chinesischer Aussenpolitik sein, direkte militärische Konfrontationen zu vermeiden. Es gibt aber keine Garantien gegen Fehlkalkulationen, die auch in Beijing gemacht werden können.
Zu ähnlichen Abenteuern könnte sich auch die nordkoreanische Führung versucht sehen, wenn sie annimmt, dass sich die USA einem neuen kriegerischen Abenteuer gegen Südkorea nicht widersetzen würden. Schliesslich ergäben sich für diverse Akteure im Mittleren Osten, der Grossregion permanenter Krisen und Konflikte, mehrfache Versuchungen für die Überschreitung „roter Linien“ zulasten strategischer Interessen der USA.
Nun ist zuverlässig anzunehmen, dass die globale Steuerung amerikanischer strategischer Interessen auch gegen momentane politische Schwächeanfälle in Washington geschützt ist. Eine nukleare Wahnsinnstat eines mental gestörten Präsidenten, beispielsweise, wird durch ein System mehrfacher interner Sicherung verunmöglicht, wie die höchsten Militärs der Kongressvorsitzenden Nancy Pelosi versichert haben. Aber bereits die durch Chaos-Bilder vermittelte Möglichkeit einer momentanen Führungslosigkeit ist eine strategisch relevante Realität, denn „perceptions are reality, too“.