Sicherheit, Europa und die Schweiz
Sicherheit, Europa und die Schweiz
In den USA ist an die Stelle einer isolationistischen Administration unter Trump die Administration Biden getreten, die in Aussicht stellt, die amerikanische Führungsrolle in der Welt wieder aktiv wahrzunehmen. In der Zwischenzeit der letzten vier Jahre hat die asiatische Grossmacht China jedoch wesentlich an Gewicht gewonnen und hat nicht nur wirtschaftliche und militärische Mittel aufgebaut, um mit den USA in einen globalen Wettbewerb um die Vorherrschaft zu treten. Neu ist die Sprache der chinesischen Diplomatie, die die Ambitionen der Führung nicht mehr versteckt, sondern aggressiv kommuniziert. Der Wettlauf um globalen Einfluss wird in Asien und auch ausserhalb des Kontinents Interessenskollisionen und Konflikte verursachen.
Im gleichen Masse, wie sich die USA vermehrt auf den Indo-Pazifischen Raum fokussieren werden, wird die EU für die Sicherheit des europäischen Kontinents mehr eigene Mittel mobilisieren müssen. Gefährdungen europäischer Sicherheit werden aus dem Osten und vom Süden, von der Südküste des Mittelmeers her, zunehmen. Aus dem Osten ist eine militärische Bedrohung vorstellbar, aus dem Süden generelle Instabilität mit wachsenden Migrationsströmen aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten. Die Konfliktlage um den Kontinent wird an seinen Grenzen zunehmen.
Europäische Sicherheit und Stabilität, von der die Schweiz seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges profitiert, wird nicht mehr von innen, sondern von aussen bedroht. Es ist nicht mehr vorstellbar, dass die Schweiz auch in Zukunft von der Stabilität ihrer kontinentalen Binnenlage profitieren kann, ohne zu ihrer Gewährleistung beizutragen. Die Schweiz ist jedoch weder NATO-Mitglied, noch EU-Mitglied, und ist demzufolge in keiner kollektiven Anstrengung europäischer Staaten automatisch dabei.
Was soll also die Schweiz im kontinentalen Kontext für ihre künftige Sicherheit unternehmen? Mit entsprechenden Erwartungen unserer Nachbarn und der weiteren europäischen Umgebung wird zu rechnen sein. Wie stellt sich die Schweiz ihre Antworten auf diese Erwartungen vor?
Diskussionen über Sicherheit tendieren spontan darauf, auch Gefahren z.B. aus der Klimaerwärmung und der Umweltzerstörung in den Blick zu nehmen. Die aktuelle Pandemie hat auch die Bedrohung durch das unerwartete Auftreten eines Virus in Erinnerung gerufen. Um eine Ausweitung jeder Sicherheitsdiskussion ins Uferlose jedoch zu vermeiden, lohnt es sich, vom traditionellen Begriff der Sicherheitspolitik auszugehen, deren Kernstück stets die militärische Bedrohung bzw. die eigene Armee als Instrument der Abwehr ist.
Angesichts der Entwicklung der letzten Jahre hat der Bundesrat in seinem neuesten Sicherheitspolitischen Bericht den Begriff der „Renaissance der militärischen Logik als Bestandteil der Politik“ neben die anderen aktuellen, nicht militärischen Formen der Bedrohung gestellt. Zu diesen gehören die technologischen Mittel, wie im „Cyber War“, mit denen technische Infrastrukturen angegriffen werden, oder die Nutzung von Kommunikationsnetzen, über die mit politischen, psychologischen oder anderen Botschaften direkt Einfluss auf die Gesellschaft genommen wird. Schliesslich ist auch der internationale Terrorismus weiterhin eine Bedrohung für die physische und moralische Unversehrtheit des Staates und der Bevölkerung.
Grundsätzlich gilt in jedem modernen militärischen Bedrohungsszenario, dass die territoriale Sicherheit der Schweiz nicht mehr an der Landesgrenze, sondern an den kontinentalen Grenzen Europas zu verteidigen ist. Auch gegen nicht-militärische Bedrohungsformen sind rein nationale Abwehrdispositive bei weitem ungenügend. Wirksame Strategien beruhen zwingend auf Kooperationen mit den Streitkräften oder Abwehrsystemen der Nachbarn. Dazu gibt es keine Alternativen. Die bestehenden Strukturen der Nachbarschaft, mit denen Kooperationen anzustreben sind, sind die NATO und in konzeptionellen Ansätzen die der Europäischen Union.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Seit 1996 ist die Schweiz Mitglied der von der NATO offerierten Partnerschaft im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (Euro-Atlantic Partnership Council – EAPC) und wirkt mit militärischen und zivilen Beiträgen an der dazugehörigen Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace – PfP) mit. Auch die 1998 angestossene Armeereform stand unter dem Motto „Sicherheit durch Kooperation“. Im gleichen Geist der Kooperation kamen auch die verschiedenen Peace-Keeping-Einsätze mit Schweizer Militärs zustande.
Bei aller Professionalität dieser Beiträge bleibt die Schweiz bei gesamteuropäischen Anstrengungen zur Sicherheit auf dem Kontinent ausserhalb integrierter nachhaltiger Strukturen. Diesem Abseitsstehen steht eine eigentliche Bewährungsprobe bevor, wenn sich die heute konkret vorstellbaren Eskalationen, sei es im militärischen, sei es im hybriden Bedrohungsfall, verwirklichen. Anlässe dazu bieten sich am östlichen Rand des Kontinents im schwelenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und in dem von Russland noch immer nicht verdauten Verlust der baltischen Staaten an. Am Südrand des Kontinents bauen sich Konflikte mit erheblichem Eskalationspotenzial in Nordafrika und im östlichen Mittelmeer sogar zwischen NATO-Verbündeten auf.
Ein ganz grosser Druck zur solidarischen Mitwirkung beim Schutz Europas wird sich schliesslich ergeben, wenn europäische Verteidigungsstrukturen im Ernstfall nicht mehr mit der Bündnisgarantie der USA rechnen können. Ein solcher Fall würde eintreten, wenn gleichzeitig mit einer Eskalation in und um Europa die USA ihrerseits wegen dem casus belli um Taiwan vollständig auf einem asiatischen Kriegsschauplatz gebunden wären.
Bei all diesen Szenarien wird dann auch wieder die Neutralität als staatspolitische Maxime neu beurteilt werden müssen.
Mögen alle diese Entwicklungen und ihre Fragestellungen in Strategen-Kreisen klar erkannt sein, so bleibt doch weitgehend offen, wie sich die schweizerische Bevölkerung und Öffentlichkeit damit auseinandersetzen soll, wenn sie die Dringlichkeit der Problematik erkannt hat. An diesem Punkt sollte der gesellschaftliche Dialog einsetzen.
Picture: Alan Grinberg