Russlands Krieg gegen die Ukraine: Hauptfeststellungen nach einem Monat Krieg
Motivation im Hintergrund
Der Überfall auf die Ukraine zielt auf die Besetzung des Nachbarlandes und ist ein Versuch, die untergegangene Sowjetunion territorial wiederherzustellen. Diese Zielsetzung ergibt sich aus vielen strategisch unzweideutigen Äusserungen des russischen Präsidenten Putin seit seinem Amtsantritt vor über zwanzig Jahren sowie aus den realen Kriegsoperationen, die Putin im Raume der ehemaligen Sowjetunion, z.B. in Georgien und mit der Besetzung der Krim, ausgelöst hat. Auch die Einflussnahme auf die Innen- und Aussenpolitik der zentralasiatischen Staaten ergibt sich aus dem strategischen Plan, die Sowjetunion in irgendeiner Form wieder auferstehen zu lassen.
Alle diese Operationen erfolgten und erfolgen in vollkommenem Widerspruch zu geltendem Völkerrecht; sie verletzen die Grenzen und die territoriale Integrität von Staaten, die als Mitglieder der Vereinten Nationen über eine weltweit anerkannte und unbestrittene Staatlichkeit und völkerrechtliche Anerkennung verfügen; sie verletzen das generelle Kriegsverbot der UN-Charta; sie verletzen überdies das bald hundertjährige generelle Kriegsverbot des Briand-Kellogg-Pakts von 1928.
Mit Putins geostrategischem Ausgreifen auf das Territorium von Nachbarn aufersteht auch das ältere geostrategische Muster des zaristischen Russlands wieder. Das 19. Jahrhundert war denn auch die Epoche, in der Russland auf skrupellose Art, aber nach den im damaligen Zeitalter allgemein akzeptierten Regeln, seine Macht nach Süden und nach Osten ausdehnte, bis sich das Territorium des Imperiums im Süden bis an das Schwarze Meer und das Kaspische Meer und im Fernen Osten an den Pazifischen Ozean erstreckte. Diese imperialistische Ausdehnung genoss international die gleiche politische Legitimation wie die Ausdehnung der dominanten imperialistischen Kolonialstaaten Grossbritannien und Frankreich über weite Teile Afrikas und Asiens.
Putin führt heute mit der gleichen Bedenkenlosigkeit und Skrupellosigkeit Krieg in seiner Nachbarschaft wie die Zaren im Zeitalter des Imperialismus und die Kommunistische Partei im 20. Jahrhundert. Die Beurteilung des Anteils an russischem Nationalismus und ideologischem Revanchismus oder an reinem Machtdenken mag variieren, ist jedoch irrelevant, denn die kriegerische Expansion russischer Macht bleibt nach heutigem Recht und Standard in jedem Aspekt völkerrechtswidrig und verbrecherisch. Mit der wissentlichen und willentlichen Ausdehnung der Kriegführung auf die Zivilbevölkerung und mit der Androhung von Atomwaffen ist Putin auch persönlich ein Kriegsverbrecher.
Die behauptete Legitimation als Kriegsgrund
Putin hat mit der kurz vor dem Angriffskrieg erklärten „Anerkennung“ der zwei fiktiven „autonomen“ Republiken Donetsk und Luhansk einen pseudo-formellen Kriegsgrund geschaffen, indem er die militärische Invasion zur „Schutzoperation“ der von der Ukraine angeblich bedrohten ost-ukrainischen Republiken erklärte und damit quasi „legitimierte“. Die Begleitkommunikation zum Aggressionskrieg enthält noch viele weitere Lügen angeblicher genozid-ähnlicher Taten der ukrainischen Regierung, die den Einmarsch rechtfertigen sollen. Kaum jemand in der Welt hat die Lügen zu ihrem Nennwert übernommen.
Aus den wahren Gründen
Für Russen, die alter (zaristischer oder sowjetischer) Grossmachtherrschaft nachtrauern, ist der objektive Rückzug der Grenzen Russlands auf den heutigen Stand in der Tat schmerzlich.
Mit dem NATO-Beitritt von Polen, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens, Bulgariens ist den Russen der „Schutzgürtel“ des Ostblocks direkt an Russlands Grenzen abhandengekommen. Mit dem NATO-Beitritt der Baltischen Staaten sogar ein Teil der Sowjetunion selber. Mit den EU- und NATO-Aspirationen der Ukraine und von Georgien drohen weitere Verluste alter zaristischer territorialer Herrschaft verloren zu gehen. Eine Ausdehnung der NATO-Allianzgrenzen bis an die ukrainisch-russische Grenze muss für Putin in seinem Herrschaftsdenken in der Tat ein Albtraum sein.
Wer wie Putin den Untergang der alten Sowjetunion als „grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet und empfindet, hat nicht erkannt und nicht akzeptiert, dass neue Machtverhältnisse auch neue Realitäten und neue Grenzen geschaffen haben, die heute unbestritten sind. Sie beruhen auf der konkreten Verwirklichung des bereits hundertjährigen Prinzips des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der daraus entstandenen, demokratisch legitimierten staatlichen Einheiten, die das heutige Völkerrecht definieren.
Der aktuelle Stand der Kriegshandlungen und die unmittelbare Auswirkung
Die russische Führung brutalisiert die Kriegsführung in nie geahnter Weise. Es scheint nur noch um die Zerstörung der Infrastruktur und die Tötung der Zivilbevölkerung zu gehen, also allesamt verbrecherische Zielsetzungen und Vorgehen. Die Brutalisierung mag mit Putins persönlichem Charakter zu tun haben, hat aber keinen ideologischen Hintergrund, wie er für Nazi-Deutschlands Krieg im Osten kennzeichnend war. Sie entspringt viel eher einer militärischen Ratlosigkeit angesichts des unerwarteten Stockens des Vormarsches, die Züge von Panik annimmt. In der Tat deckt das Stocken unglaubliche Mängel in Ausrüstung und Ausbildung der Truppen und eine fatale Unfähigkeit der strategisch-operativen Führung auf.
Russland kann immer noch in seinem Plan vorwärts kommen, indem es Leiden und Schäden ins Unermessliche steigert, politisch-strategisch hat es den Krieg aber bereits verloren. An eine flächendeckende Besetzung und Beherrschung der Ukraine ist nicht mehr zu denken; es droht ein wachsendes Bewusstsein in der eigenen Bevölkerung, dass es systematisch über den Plan und die Schlachtfeld-Wirklichkeit angelogen worden ist. Das Schicksal Russlands und Putins im Urteil der Geschichte stehen heute schon fest: Russland ist auf Jahre, vielleicht Generationen hinaus der Paria-Staat, der ab 1945 das geschlagene Nazi-Deutschland war; Putin steht als Kriegsverbrecher in einer Reihe mit Hitler, Göring, Saddam und Milosevic.
Die gelegentlich gemeldeten Anzeichen von Verhandlungsbereitschaft auf russischer Seite verstärken die realistische Vermutung, dass die russische Kriegsführung an keine Zielerreichung mehr glaubt. Wie bald es zu einem ausgehandelten Waffenstillstand kommt, und zu welchem Preis für beide Seiten, ist in diesen Tagen noch vollkommen offen.
Die Wirkung der westlichen Reaktion
Der bemerkenswerte Schulterschluss in der NATO und unter europäischen Staaten, innerhalb der EU und mit anderen, sowie die Bereitschaft zu einer gemeinsamen Reaktion mit Kraft ist gleichermassen ein historischer Einschnitt wie der Aggressionskrieg für sich allein. Sie straft alle pessimistischen Prognosen über einen Abstieg des Westens Lügen. Historisch ist sicher die Tatsache, dass westliche Demokratien im Angesicht einer direkten militärischen Herausforderung mit politisch-weltanschaulichem Gehalt auf eine Weise ihre Relevanz für geopolitische Vorgänge bewiesen haben, wie sie die Welt nicht für möglich gehalten hat. Der geostrategische Abstieg des Westens ist dank seinem einzigartigen Vorsprung in Technologie, Innovationskraft, Wirtschaftsleistung und Fähigkeit, neue Herausforderungen mit neuen Rezepten zu bewältigen, zumindest wesentlich in die Zukunft verschoben worden.
Die aktuellste Herausforderung besteht darin, dafür zu sorgen, dass die einschneidenden Sanktionen gegen Russland nicht unterlaufen werden. Zumindest steht für die westliche Welt und die mit ihr in engem Austausch stehenden Länder und Staatengruppen bereits fest, dass der Versuch, die Sanktionen zu umgehen, erhebliche Reputationsschäden nach sich ziehen werden.
Weniger eng mit der westlichen Welt verbundene Länder und Regionen stehen jetzt unter dem Zwang, sich ihre Positionierung angesichts des von Russland ausgelösten Krieges sehr wohl zu überlegen.
Die Position der wichtigsten geopolitischen Akteure
China steht an der rhetorischen Oberfläche politisch auf der Seite des Rechts- und Friedensbrechers. China wird auch in einer ersten Phase als Abnehmer russischer Energieträger etwas gegen Russlands wirtschaftliche Isolation tun können. Es ist aber klar, dass China niemals die ganze Nachfrage, die jetzt wegfällt, kompensieren kann. Ausserdem stellt sich die Frage, in welcher Währung Öl und Gas bezahlt werden sollen. Der US Dollar fällt weg; der russische Rubel ist auch für China keine konvertierbare Währung; es bleibt also nur noch die Verrechnung, was Russland zwingen würde, chinesische Industrieprodukte zu erwerben und mit Energierohstoffen zu bezahlen. In diesem exklusiven Verhältnis wird angesichts fehlender Nachfragekonkurrenz wohl China als Nachfrager den Preis bestimmen können. Von weit grösserer Tragweite erweist sich die Prinzipfrage. Die staatliche Souveränität und die Unverletzlichkeit staatlicher Grenzen sind Kernelemente in Chinas eigener Aussenpolitik. Gerade der Anspruch auf Taiwan als inhärenter Teil Chinas stützt sich auf diese Kernelemente. Es ist anzunehmen, dass sich die chinesische Führung in der Ukraine-Frage in mehreren Dilemmata befindet. Über allem dürfte auch die Angst der chinesischen Führung vor Einbrüchen in ihrem strategischen und wirtschaftlichen Sicherheitsdenken erheblich sein. Nichts ängstigt die Kommunistische Partei mehr, als das Unvorhergesehene, das der Ukraine-Krieg, die unerwartete Einheitsfront des Westens und die massive Wirkung der Sanktionen ausgelöst haben. Es ist auch zu erwarten, dass für China zunehmend eine allzu grosse Solidarität mit Russland im Rest der Welt sogar einen Reputationsschaden nach sich ziehen wird, den China nicht erleiden möchte.
Indien ist gleich zu Beginn des Krieges und der Befassung des Sicherheitsrates aufgefallen mit seiner Stimmenthaltung zur Frage einer Verurteilung Russlands. Eine offensichtliche Logik hätte erwarten lassen, dass Indien, das sich seit seiner Unabhängigkeit von China bedroht fühlt, die Gelegenheit nutzt, die strategische Verlegenheit Chinas auszunützen, indem es sich mit einer Parteinahme gegen Russland auch als Partner in der Eingrenzung von Chinas Expansion empfiehlt. Dabei geht vergessen, dass Indien erstens eine jahrzehntelange Partnerschaft mit der Sowjetunion hinter sich hat, und zweitens, als Ausfluss dieser Vergangenheit, noch heute grossmehrheitlich russisches Rüstungsmaterial nutzt. Gerade mit Bezug auf das Feindbild China wird Indien noch lange auf russisches Militärmaterial bauen. Dazu kommt Indiens Abhängigkeit vom Import von Energieträgern. Neben China und Europa als Hauptnachfrager auf dem internationalen Öl- und Gasmarkt wird Indien als erstes unter dem aktuellen, nachfragebedingten Preisschub leiden. Die erst vor kurzem bekannt gewordene Vereinbarung mit Russland, für den direkten Bezug von Energie eine exklusive gegenseitige Rubel-Rupien-Austauschbarkeit einzuführen, unterläuft natürlich alle Isolationsmassnahmen des Westens, wird aber wohl unter dem Druck des Faktischen vorläufig zu schlucken sein. Längerfristig ist aber zu erwarten, dass sich Premierminister Modis Indien, in einer logischen Ausweitung und Vertiefung seiner relativ jungen, aber zunehmend segensreichen Partnerschaft mit den USA, auch stärker in die anti-chinesischen Dispositive im Indopazifischen Raum integriert. Dann wird das Verhältnis zum internationalen Sanktionen-Regime gegen Russland zur Diskussion gestellt werden.
Iran ist, ähnlich wie heute Russland, seit Jahren vom Westen politisch marginalisiert und mittels Sanktionen wirtschaftlich unter massiven Druck gesetzt. Iran mag sich deshalb als „natürlicher“ Parteigänger von Putins Russland empfehlen. Sogar wenn Iran eine wirksame Anlehnung an Russland suchen sollte, wäre sie von geringem gegenseitigem Nutzen. Beide sind international in erster Linie Energieanbieter und somit Konkurrenten. Ausserdem wäre Iran, seinerseits internationaler Paria-Staat, von geringem strategischem Gewinn für Putin. Dazu kommt, dass im kollektiven Bewusstsein der Iraner Russland historisch etwa gleichermassen als Feind erinnert wird wie die Briten. Im 19. Jahrhundert hat das zaristische Russland Persien territorial mehr weggenommen als irgendeine andere Macht. Und auch Stalin bleibt in Erinnerung als der, der gleich nach dem Zweiten Weltkrieg neben dem heutigen Aserbaidschan auch die heutige iranische Provinz Aserbaidschan besetzte und annektieren wollte. Für die iranische Volksseele ist eine umstände-bedingte Allianz mit Russland also ein fremder Gedanke. Eine strategisch möglicherweise folgenschwere Komplikation fliesst zudem aus dem laufenden Verhandlungsprozess um die Wiederbelebung des sog. Nuklearvertrages. Die hängige Streitfrage der Rückkehr Irans in den Nuklearvertrag eröffnet eine unerwartete Dynamik. Während gerüchteweise von Fortschritten in der Nuklearfrage die Rede ist, scheint sich Russland jenseits vom Ukraine-Krieg mit einer neuartigen Obstruktionsposition in der Iranfrage strategische Vorteile verschaffen zu wollen. Das schafft eine offene politische Dynamik, deren Ausgang nicht vorhersehbar ist und die deshalb der Geopolitik in diesem Konflikt neue Unwägbarkeiten beschert.
Die arabischen Golfstaaten sehen sich im Moment als Hauptnutzniesser des Ukraine- Krieges, indem sie vom dramatisch gestiegenen Ölpreis profitieren und sehr selbstbewusst amerikanische Begehren abgelehnt haben, mit einer Ausweitung der Ölförderung der Verknappung (und damit Preissteigerung) entgegen zu wirken. Wenn im gleichen Kontext nun auch, dank russischer Obstruktion in der Nuklearfrage, eine für die Golfaraber drohende Reintegration Irans in die Weltwirtschaft verhindert werden kann, scheinen sie auch in diesem Punkt zu profitieren. Wie weit sich diese Nutzniesser-Haltung in die Zukunft verlängern lässt, bleibt natürlich offen und darf, angesichts von Russlands längerfristiger politisch-strategischer Chancenlosigkeit im angezettelten Krieg, auch angezweifelt werden. Im Moment tragen die Golfaraber, wie auch Indien, dazu bei, dass die geschlossene westliche Haltung und Reaktion global nicht lückenlos geteilt wird. Entscheidend wird noch einmal sein, wie nachhaltig sich die westlichen Vorteile militärischer, wirtschaftlicher und technologischer Natur als tragfähig erweisen werden.
Die Schweiz hat zu einer europa-kompatiblen Aussenpolitik gefunden, nachdem der Bundesrat so lange mit dem Anschluss an europäische und amerikanische Sanktionen gezögert hat, dass man meinte, die Landesregierung stecke konzeptionell noch in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Frei übersetzt schien der Bundesrat in einer Anfangsphase der russischen Aggression gegen seinen unterlegenen Nachbarn Ukraine den Krieg als einen Konflikt zwischen zwei Kriegsparteien zu sehen, der in traditionellem schweizerischem Denken den Neutralitätsreflex des Unbeteiligten auslöst. Mit dem aktuell auch für die Schweiz geltenden Sanktionen-Regime gegenüber dem Kriegstreiber Putin befindet sich die Schweiz dort, wo sie aufgrund von Geografie, Geschichte und Werthaltung hingehört: ins Lager des von Russland prinzipiell umfassend angegriffenen europäischen Kontinents. Europa ist virtuell und potenziell Kriegszone und die Schweiz mitten drin. Entweder verteidigt sie sich zusammen mit den Europäern oder riskiert, selber in eine Paria- Rolle zu gleiten.
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24. März 2022
Einen Monat nach dem Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine
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Picture: Lewin Bormann