Russlands Krieg gegen die Ukraine (laufende Analyse): Geostrategische Konsequenzen
Die Kriegsaktualität
Dreieinhalb Monate nach dem militärischen Einmarsch russischer Truppen im Nachbarland Ukraine beherrschen noch immer die systematisch gewordenen Kriegsverbrechen des Aggressors Russland und die Tragödie des Kriegselends der ukrainischen Bevölkerung die Medien. Nach militärischen Schlappen im Norden und Nordosten der Ukraine konzentrieren sich russische Streitkräfte heute vor allem auf die Eroberung grösserer Teile der Ostukraine. Die internationale Aufmerksamkeit gilt hauptsächlich dem Kriegsgeschehen und dem Handeln der russischen Führung. Eine zunehmende Bedeutung kommt aber auch den längerfristigen geostrategischen Konsequenzen zu.
Die Reaktion Europas und des Westens
Das offensichtlichste und geopolitisch überaus bedeutsame Ergebnis von Putins Aggression ist der NATO-Zuwachs um Finnland und Schweden, der im Moment von einem politisch- taktisch begründeten Widerstand des NATO-Mitglieds Türkei aufgehalten wird, aber nach Ansicht von Experten nicht aufgehalten werden kann.
Die Reaktion im „Rest der Welt“
Es ist verschiedentlich medial darauf hingewiesen worden, dass sich eine Vielzahl von Staaten und damit mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung nicht gegen Russlands Aggressionskrieg gestellt hat. Von geostrategischem Belang und deshalb genau zu beobachten sind China, Indien, die erdölreiche Golfregion und Russlands Nachbarschaft in Zentralasien und im Kaukasus, aber auch Japan.
Jenseits des Ukrainekrieges sieht China die globale Rolle der USA weiterhin als prioritäre Herausforderung. Gemessen an der bemerkenswerten Selbstsicherheit und kommunikativen Selbstvergewisserung der chinesischen Führung unter Xi Jinping der letzten Jahre erscheint Chinas Auftritt im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg beinahe als kleinlaut. Der unmittelbare Gewinn für China ist die grenzenlose Verfügbarkeit der russischen Energieträger Öl und Gas zu vorteilhaften Preisen. Auch die für Russland unausweichlich gewordene geopolitische Anlehnung als Juniorpartner an China ist ein offensichtlicher Vorteil für Beijing als Gegengewicht zur globalen Dominanz der USA. Von ganz anderer Tragweite erweist sich jedoch eine Prinzipienfrage. Die staatliche Souveränität und die Unverletzlichkeit staatlicher Grenzen sind Kernelemente in Chinas eigener Aussenpolitik. Gerade der Anspruch auf Taiwan als inhärentem Teil Chinas stützt sich darauf. Russlands Krieg gegen den Nachbarn Ukraine verletzt nun diese Grundsätze chinesischer Aussenpolitik und Strategie massiv. China hat noch keinen kohärenten Ausweg aus diesem Dilemma gefunden. Das ist der Grund für seine relative Zurückhaltung in seiner materiellen Unterstützung Russlands; China ist im Begriff, seine Risiken als relativer Vertrauter Putins diskret abzubauen, um politische Angriffsflächen zu verringern. Die Angst der chinesischen Führung vor Einbrüchen in ihrem strategischen und wirtschaftlichen Sicherheitsdenken dürfte erheblich sein. Nichts ängstigt die Kommunistische Partei mehr, als das Unvorhergesehene, das der Ukraine-Krieg, die unerwartete Einheitsfront des Westens und die massive Wirkung der Sanktionen ausgelöst haben. Dies und der heute offen zutage tretende Misserfolg der chinesischen Covid-Politik dürften das Gerede vom Abstieg des Westens und von der „besseren Demokratie im chinesischen Modell“ noch für einige Zeit zum Verstummen bringen.
Indien enthielt sich bei der ersten UN-Sicherheitsratsentschliessung zum Ukrainekrieg der Stimme; es gehörte zu den drei Mitgliedern, die den Aggressionskrieg nicht verurteilten. Dies mag im Westen nach zwanzig Jahren kontinuierlicher Annäherung Indiens an westliche Allianzen Erstaunen ausgelöst haben. In Anbetracht starker historischer Vorgaben ist Indiens Reaktion auf den Ukrainekrieg aber nicht verwunderlich. Mit Russland, oder ex Sowjetunion, verbindet Indien ein halbes Jahrhundert ideologischer Nähe und geostrategischer Partnerschaft, die erst mit Präsident Clintons Angebot einer strategischen Partnerschaft mit den USA im Jahre 2000 an ein Ende kamen. Vor diesem Hintergrund ist die gewachsene und heute noch markante Abhängigkeit Indiens von seiner militärischen Zusammenarbeit mit Russland und von russischen Rüstungsgütern nur folgerichtig und lässt sich auch nicht in wenigen Jahren annullieren. Dazu kommt Indiens Abhängigkeit von der Lieferung russischer Energieträger. Selbstverständlich haben westliche Partner Indien auf die Unannehmbarkeit jeder, den Aggressor Russland begünstigenden Politik hingewiesen. Es ist angesichts des wirtschaftlichen und politischen Eigengewichts Indiens jedoch zu vermuten, dass westliche Regierungen sich damit abfinden und Indiens Position vorläufig hinnehmen. Bedeutungsvoll ist immerhin, dass sich Premierminister Modi persönlich auf eine Europa-Tour begeben hat, um Indiens Willen zum Ausdruck zu bringen, weiterhin zu den westlich dominierten anti- chinesischen Eindämmungsdispositiven im Indopazifik zu gehören. Insoweit sich Russland China zuwenden muss, verliert es auch seinen strategischen Wert für Indien in dessen Kampf gegen Chinas kontinentale Expansion. Zunehmende Aufmerksamkeit verdienen ausserdem die verschiedenen politischen und militärischen Absprachen und Allianzen im indo- pazifischen Raum, die sich als anti-chinesisch entpuppen. Indien sucht die strategische Nähe zu diesen Entwicklungen. Gleichzeitig wird Modis Absicht erkennbar, Indiens Grossmacht- Status durch eine neue Mittlerrolle zwischen den anderen Grossmächten des asiatischen raumes, USA, China, Russland, zu festigen. Damit wird Indien zu einem indirekten Nutzniesser des Ukrainekrieges.
Die arabischen Golfstaaten sind im Moment die Hauptnutzniesser des Ukraine-Krieges. Sie profitieren vom gestiegenen Ölpreis und leisten es sich, selbstbewusst amerikanische Begehren abzulehnen, die Ölförderung auszuweiten. Gleichzeitig nützt es den Golfarabern, dass in den Verhandlungen zur Wiederbelebung des sog. Nuklearvertrages mit Iran Russland als Vertragspartei Obstruktion macht und damit eine von den Golfarabern abgelehnte Reintegration
Irans in die Weltwirtschaft verhindert. Eine lange geopolitische Nachhaltigkeit dürfte diese Position angesichts von Russlands längerfristiger politisch-strategischer Chancenlosigkeit im angezettelten Krieg kaum haben. Aber im Moment tragen die Golfaraber, wie auch Indien, dazu bei, dass die geschlossene westliche Haltung und Reaktion global nicht geteilt wird. Iran muss als ölreicher Golfstaat von den Golfarabern gesondert betrachtet werden. Mit den durch den Ukrainekrieg ausgelösten westlichen Sanktionen ist Russland in eine mit Iran vergleichbare Situation geraten. Damit träumen wohl beide Seiten von einer momentanen „Schicksalsgemeinschaft“, vor allem unter dem Aspekt des gemeinsamen Feindes USA. Unter Berücksichtigung einer konfliktreichen Vergangenheit in den Beziehungen zwischen Russland und Iran hat die politische Nähe der Islamischen Republik zu Putins Russland jedoch keine grosse Zukunft. Zusätzlich zum historischen Antagonismus kommt das wirtschaftliche Profil: beide sind auf dem Weltmarkt als Anbieter von Energie Konkurrenten und sind in Industrie und Handel nicht komplementär, haben sich also gegenseitig wenig zu bieten. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass es mit China, Russland und Iran zu einer dauerhaften und wirksamen Blockbildung gegen die USA kommen wird.
In Europa am wenigsten beachtet, aber ebenso bedeutungsvoll sind die Anzeichen in Zentralasien und im Südkaukasus, dass sich zusätzlich zu Georgien und Moldowa andere ehemalige Sowjetrepubliken wie Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan oder Aserbaidschan mit unterschiedlicher Intensität und Sichtbarkeit von der ererbten Abhängigkeit von Russlands post-sowjetischer Hegemonialpolitik zu lösen beginnen. Putins Überfall auf die Ukraine löst in diesen Ländern eine zunehmende Wahrnehmung ex-sowjetischer Gemeinsamkeit als einer Zeit kolonialer Fremdherrschaft aus. Als eine längerfristige Wirkung des Ukrainekrieges dürfte auf die Stärkung und Ausweitung der Nato im Westen von Russland auch eine bleibende Absetzbewegung im Süden und im Osten folgen. Das Bild Putins als des grossen Verlierers ist für viele erst eine Ahnung, aber eine Umkehr des strategischen Abstiegs Russlands erscheint heute schwer vorstellbar.
Japan ist das stärkste Glied in den von den USA angeführten anti-chinesischen Dispositiven im asiatisch-pazifischen Raum, der heute, in einer deutlichen geo-strategischen Absicht, indo- pazifischer Raum bezeichnet wird. Japan ist der Initiant der „QUAD / quadri-lateral security dialogue“ genannten Kooperationsstruktur mit den USA, Australien und Indien, welche sich nach der anfänglichen Beschränkung auf maritime Manöver nun zu einem sicherheitspolitischen Instrument wachsender Bedeutung entwickelt hat. Es liegt in der Logik der aktiveren Interessenwahrung Japans, dass es auch Anschluss an das relativ neue und ausdrücklich gegen Chinas Expansion gerichtete militärstrategische Bündnis AUKUS (Australien – UK – USA) suchen wird. Die innenpolitische Belebung der Debatte um die verfassungsrechtlichen Einschränkungen einer robusteren Verteidigungspolitik liegt auf der gleichen Linie, umso mehr, als Japan sowohl mit Russland, als auch mit China um territoriale Ansprüche auf Inseln der regionalen Gewässer streitet. Schliesslich haben Japan und neuerdings auch Südkorea ihre Bereitschaft angedeutet, im casus belli um Taiwan, diesen wirtschaftlich und technologisch führenden, strategisch aber verletzlichen Inselstaat auf der Seite der allenfalls intervenierenden USA einzugreifen.
Die knapp skizzierten Entwicklungslinien der neuesten Zeit sind alle auf das geopolitische Erdbeben zurückzuführen, das Putin mit seinem Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat und das indirekt dem geostrategischen Aufstieg Chinas neue Hindernisse in den Weg legt.
- Juni 2022,
dreieinhalb Monate nach dem Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine
Picture: Alisdare Hickson