Radikalisierte Diktatoren
Warum haben westliche Spitzenpolitiker Putin in der Vergangenheit falsch beurteilt? Und: Gilt dasselbe im Moment für Xi Jinping? Geschichte als Lehre.
Der renommierte amerikanische Historiker Timothy Snyder ist eine führende Autorität zu den Verbrechen des Stalinregimes und der Entstehung des 2. Weltkrieges. In einem ,weithin beachteten Interview geht er hart ins Gericht mit westlichen Politgrössen, indem er eine Vergleich zieht zwischen 1938, dem Einknicken der europäischen Westmächte gegenüber Hitler einerseits und andererseits dem Verhalten von Präsident Obama sowie den Kanzlern und Präsidenten von Deutschland und Frankreich gegenüber Putin: Our misreading of Russia is deep, very deep. Was die Zeitgeschichte anbelangt, stimmt dies nur bedingt.
Gentle Commerce
Die ‘zivilisatorische Kraft von Freihandel’, die Überzeugung, dass sich dieser mit politischer Einigung paart, geht bis zur Aufklärung zurück und findet sich schon vor Adam Smith bei Montesquieu. Das bedeutet nicht zwangsläufig ‘Wandel durch Handel’, wohl aber, dass Staaten jedwelcher politischer Couleur ein Eigeninteresse haben an, von politischen Fakten möglichst losgelöstem Wirtschaftsverkehr.
Diese Grundüberzeugung hat auch immer wieder Resultate gebracht. Die anfängliche Reaktion des Einbezugs von China, mit der Aufnahme von Beijing in die Welthandelsorganisation WTO 2001, war global gesehen positiv. Die amerikanische Industrie hat durch Abwanderung von Produktion, gerade nach China, schweren Schaden erlitten. Was aber zum Grossteil mangelnder Voraussicht – insbesondere dem Fehlen einer staatlichen Industriepolitik, was sich jetzt erst unter Biden ändert – geschuldet ist. In Europa, zumal in der Schweiz, waren die Auswirkungen positiv. Günstigere industrielle Fertigung im Rahmen globaler Lieferketten brachten grosse Produktionsgewinne und grundsätzlich mehr Wohlstand. Dessen Verteilung ist eine andere Geschichte.
Vom autoritären zum totalitären System
Das – im Falle Russland heute offensichtliche – Problem wird vielmehr auf Seiten nichtwestlicher, autoritärer Systeme geschaffen. Das Abgleiten eines autoritär geführten System in ein totalitäres Zwangsregime, wo alles, auch wirtschaftliche Imperative dem politischen Willen des Alleinherrschers untergeordnet wird, ist wohl zwangsläufig. Je totalitärer, je stärker kapselt sich dieser in einer Blase ein mit willfährigen Günstlingen, verliert sowohl den Kontakt mit seinen Untertanen und deren Befindlichkeit als auch das Wissen über den Gang der Welt ausserhalb seines Machtanspruchs.
Das Beispiel Putin
Natürlich wusste man, dass Putin ein arttypischer Offizier der sowjetischen, dann russischen Geheimdienste war, mit andauerndem Phantomschmerz ob dem Verschwinden der Globalmacht UdSSR. Dass er aber mit einem chaotischen, von Kriegsverbrechen begleiteten Aggressionskrieg gegen die Ukraine nicht nur seinen Hauptgegner NATO zusammengeschweisst, sondern auch seinen, früher oder später eintretenden Fall eingeleitet hat, konnte kaum ein rational denkender Westpolitiker voraussehen. Solche Falscheinschätzung und letztlich selbstmörderischer Wahn liegt in westlichen Demokratien, zumindest vorläufig ausserhalb des politischen Erfahrungshorizontes.
Das Beispiel Xi Jinping
Dass China unter Xi sich auf den slippery slope begeben hat vom autoritären zum totalitären Überwachungsstaat mit einem sicherheitsbesessenen Alleinherrscher an der Spitze, abgehoben in einer Blase, wird immer deutlicher. Ein rational denkender Politiker hätte kaum durch die Wahnvorstellung Zero–Covid das eigene Land, sprichwörtlich dicht besiedelt und damit zwangsläufig ansteckungsbedroht, in einem Ausmasse geschädigt, das mit dem chinesischen Wirtschaftsabschwung immer deutlicher wird. Der gegenwärtige Kurs von Xi zur verbalen Detente mit den USA erklärt sich wohl mit diesem schlechten Stand der Wirtschaft und dem entsprechenden Bedarf an Technologie und Kapital aus dem Westen. Eine wirkliche Gesinnungsänderung von Xi erscheint fraglich.
Wie für Putin die Ukraine, ist Taiwan für Xi eine idée fixe, um im eigenen Verständnis in die Geschichtsbücher einzugehen. Ungeachtet der Tatsache, dass ein kriegerischer Konflikt um Taiwan ausschliesslich Verlierer zurücklassen würde, eingeschlossen die festlandchinesische Gesellschaft selbst. Wie im Falle Ukraine liesse sich auch ein nukleares Fanal nicht ganz ausschliessen
Radikalisierte Diktatoren
Die Rumänien-Deutsche Herta Müller, Nobelpreisträgerin für Literatur, zieht aus ihrer Erfahrung mit Ceausescu den Schluss, dass sich ‘Diktatoren immer radikalisieren’. Das ist die wohl banale Folgerung aus der zeitgenössischen Geschichte Russlands und Chinas. Ein Schluss, den jeder Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft selbst ziehen kann und muss, auch ohne Anleitung von eigenen Behörden.
Picture: ggia