Indiens Grossmachtambitionen

September 3, 2024

Vom „grössten Land“ zur globalen Grossmacht?

Bezüglich Bevölkerungszahlen ist Indien heute das „grösste Land der Welt“. Es hat vor einiger Zeit China überholt. Das scheint der letzte fehlende Anreiz für Indiens ausdrückliche Ambition zu sein, zu den global dominanten Grossmächten USA und China aufzuschliessen. Bei den wesentlichen Voraussetzungen für eine solche Zielsetzung, einerseits dem notwendigen wirtschaftlichen Gewicht und andererseits den militärischen Fähigkeiten, verzeichnet Indien jedoch noch immer  – und wohl noch lange –  erhebliche Defizite. Es wird noch einige Zeit keine Supermacht sein, aber sein Regierungschef arbeitet seit zehn Jahren zielstrebig daran.

Bis vor etwa dreissig Jahren stagnierte Indiens Wirtschaftswachstum im Vergleich mit China, den USA und vielen erfolgreichen Volkswirtschaften des Globalen Südens. Die in den 1990-er Jahren eingesetzte Deregulierungspolitik hat begonnen Resultate zu zeitigen, ist aber erst unter dem BJP-Premierminister Modi nachhaltig geworden. Modi hat dem Land in der Tat eine wesentliche Verbesserung seiner Position im internationalen „Ease-of-doing-business-Ranking“ verschafft. Es ist vom 142. auf den 63. Rang aufgestiegen. Damit verbunden ist nachhaltiges Wachstum. Indien gehört heute zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt.

Das Land hat aber erst etwa einen Viertel des wirtschaftlichen Gewichts Chinas oder der USA oder der EU erreicht. Dieser trotz allem relativ beachtliche Erfolg war aber nicht möglich ohne einen hohen Preis. Binnenwirtschaftlich ging er zulasten der sozial Schwächsten, innenpolitisch zulasten von Minderheiten, besonders der Muslime, und der politischen Opposition. Deshalb hält die grösste Demokratie der Welt heute einem Vergleich mit europäischen oder nordamerikanischen Gesellschaften nicht stand. Sie ist geprägt von einem ideologisch getriebenen Autoritarismus, der die Zusammenarbeit mit westlichen Staaten schwierig macht.

Militär-strategische Wende

Auch die militärisch-strategische Dimension genügt nicht für die Erreichung des angestrebten  Supermachtstatus. Indiens Militärbudget erreicht einen guten Viertel des chinesischen und knapp einen Zehntel des amerikanischen Verteidigungsaufwands. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob sich Indien im militärisch unterlegten Wettlauf um globalen Einfluss um nutzbringende strategische Partnerschaften bemüht. In 2000 bot US-Präsident Clinton Indien eine strategische Partnerschaft an und löste das traditionell blockfreie und an die verblichene Sowjetunion angelehnte grosse Drittweltland aus einer selbstverursachten politischen Isolation heraus. Das war eine Zeitenwende.

Aus diesem ersten Schritt einer Annäherung an westlich dominierte Strukturen hat sich eine Mitwirkung Indiens in der Quad (Quadrilateral Security Dialogue) entwickelt, deren jüngste Dynamisierung von Modi ausdrücklich mitgetragen wird. Die vier Partner der Quad sind Japan, die USA, Australien und Indien und ihre gemeinsame Zielsetzung ist die strategische Eindämmung chinesischer Expansion im Indo-Pazifik, dem Grossraum, der den Westpazifik mit dem Indischen Ozean verbindet. Mit seinem Entscheid, in dieser Allianz aktiv mitzuwirken, ergänzt Modi Indiens jahrzehntelangen Kampf gegen China an seiner viertausend Kilometer langen Landgrenze im Norden im Himalaya-Gebirge um eine strategisch bedeutsame Dimension. Gleichzeitig baut Indien auch seine rüstungstechnologische Zusammenarbeit mit westlichen Partnern, vor allem den USA, Frankreich und Israel, systematisch aus.

Indien und sein Ozean

Die Bezeichnung des Weltmeeres zwischen Indien und Ostafrika als Indischer Ozean entspricht keinem Zufall. Migration und Handel in beiden Richtungen gehen viele Jahrhunderte zurück. Ohne indische Fachkräfte könnten heute die reichen Ölemirate auf der arabischen Halbinsel nicht funktionieren. Dasselbe gilt von Indien in die entgegengesetzte Richtung; in Südostasien finden sich namhafte indische Bevölkerungsteile, die oft generell das Rechtswesen der dortigen Staaten dominieren, so etwa in Singapur und Malaysia.

Grosser aktueller Widersacher Indiens bei der strategischen Beherrschung ‘seines’ Ozeans ist China. Ein weiteres Element in der bereits erwähnten Liste der Differenzen zwischen den beiden grossen Nachbarn China und Indien ist die Tatsache, dass sich Indien, mit seiner China weit unterlegenen militärischen Macht, heute und in die voraussehbare Zukunft an die USA anlehnen, welche weiterhin die dominante strategische Macht im Indo-Pazifik ist.

Die USA und Indien sind zur Eindämmung des chinesischen Anspruchs auf Dominanz in der Grossregion und letztlich in der ganzen Welt in einer Zweckallianz verbunden. Hauptirritant in dieser Beziehung ist allerdings der autokratische Stil der Modi-Regierung. Falls im November Trump ins Weisse Haus einzieht, wird das kaum eine Rolle spielen, wenn dies aber Kamala Harris mit demokratischen Mehrheiten im Kongress sein wird, aber schon. Einen Vorgeschmack solcher Störungen bildet die Ermordung von Sikh-Aktivisten im Auftrag der indischen Regierung weltweit, eingeschlossen durch die FBI vereitelter Pläne dazu in den USA.

Indien und Europa

Europaund Indien sind heute, im Gegensatz jedenfalls zur Kolonialzeit, relativ wenig verbunden. Dies gilt sogar für das Post-Brexit UK, das fest entschlossen war, den Ausfall seiner Wirtschaftsbeziehungen mit der EU u.a. in Form eines ganzen Bündels von Wirtschaftsabkommen mit dem Juwel im seinerzeitigen Kolonialreich zu kompensieren. Trotz, vielleicht auch wegen, einem indisch-stämmigen Prime Minister auf der englischen Seite konnte vor den Wahlen in der ersten Hälfte 2024 kein einziges der geplanten Wirtschaftsabkommen fertiggestellt werden.

Die EU und Indien sind seit Jahren in Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen (FTA) sowie Abkommen über Investitionsschutz (IPA) und Herkunftsbezeichnungen begriffen, ohne dass im Moment ein Ende abzusehen wäre. Von EU-Seite werden dabei sowohl Klima- als auch menschenrechtliche Bestimmungen angestrebt, währenddessen Delhi auf andauernden Sozialleistungen für indische Arbeiter besteht.

Angesichts dieser Blockaden erscheint der erfolgreiche Abschluss Anfang 2024 eines FTA mit der EFTA, also auch der Schweiz, umso aufsehenerregender. Auf schweizerischer Seite wurde dabei eine Verpflichtung eingegangen, über 15 Jahre hinweg für 100 Mia. Dollar Investitionen in Indien zu tätigen. Ob das Abkommen die innenpolitischen Hürden in beiden Ländern erfolgreich überstehen kann, ist ungewiss, da sich einmal die Interessen der Pharmaindustrie in der Schweiz – möglichst langer Schutz von Patenten – und in Indien – möglichst rasche Produktion von Generika – diametral entgegenstehen. Sollte das FTA in der Schweiz zur Volksabstimmung gelangen, wird namentlich die Frage von Kinderarbeit in Indien aufs Tapet kommen. Dazu sind im FTA lediglich relativ unverbindliche Verpflichtungen enthalten.

Indien und das nicht-chinesische Asien

Hier sind die vertraglichen Bande relativ wenig substantiell. Wohl ist Indien, wie erwähnt, Teil der Quad. Auf wirtschaftlichem Gebiet bestehen aber erstaunlich wenige tatsächlich funktionierende Bande und dies trotz der von Delhi offiziell propagierten Politik des ‘Look East’.

Immerhin besteht mit der ASEAN ein FTA der ersten Generation (Zölle) seit 2010. Mit Japan wurde 2024 ein Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen. Mit Korea besteht seit geraumer Zeit ein generelles Wirtschaftsabkommen (Comprehensive Economic Partnership Agreement). Mit Australien verbindet Indien ebenfalls ein wenig detailliertes Rahmenabkommen (Australia – India Economic Cooperation Trade Agreement), das namentlich Zölle auf indischen Exporten abschafft. Die dabei offensichtlich werdenden Probleme dürften symptomatisch sein: Auf australischer Seite kommen aus der Zivilgesellschaft Bedenken wegen Kinderarbeit, auf indischer Seite beklagen sich Produzenten, namentlich aus Kerala, über Konkurrenz für ihre Produkte aus der Agrarindustrie. Indien tut sich allgemein schwer damit, seine bisher geschützte einheimische Industrie dem rauen Wind internationaler Konkurrenz zu öffnen.

Indien und Russland

Mit Blick auf den asiatischen Teil von Russland sind hier schliesslich die Beziehungen zwischen Delhi und Moskau zu erwähnen. Diese sind, mit einer aktuellen Ausnahme, historischer und politischer Natur. Die Unterstützung, primär mit Waffen – was weiterhin andauert – und sekundär in Form von politischer Propaganda der verblichenen Sowjetunion für das damals blockfreie Indien sind in Delhi unvergessen und erklären einen guten Teil der achselzuckenden Toleranz von Indien gegenüber der russischen Aggression in der Ukraine. Der andere Teil betrifft die seit den westlichen Embargomassnahmen gegen Putins Russland emporschnellenden Einfuhren Indiens von russischem Erdöl zu günstigen Bedingungen. Wie lange Europa und, für Dehli wichtiger, die USA dieser Schlaumeierei Modis wegen der strategischen Bedeutung Indiens in der globalen Koalition gegen China noch zusehen werden, ist ungewiss.

Die Russland-Nähe mag wirtschaftlich einen Sinn haben, da Modi im Handelsaustausch riesige Mengen an Erdöl mit grossem Rabatt erhält. Aber sie ist naiv, wenn er damit meint, dass er im Falle eines Konflikts mit China aus Russland Unterstützung erwarten könne. Zu weit hat sich Russland in seiner strategischen Isolation und wirtschaftlichen Notlage als „Juniorpartner“ bereits dem Nachbarn China unterworfen.

Insgesamt ist auch aus regierungsnahen Kreisen zu vernehmen, dass Modis Annäherung an den Westen die langfristig ernsthafte Strategie ist. Die im Gegensatz dazu erscheinende Mitwirkung Indiens in den chinesisch dominierten Strukturen der BRICS-Staaten sowie in der Shanghai Cooperation Organisation, SCO, einer ursprünglich russisch-chinesischen Schöpfung für sicherheitspolitische Zusammenarbeit, wird indischerseits den westlichen Staaten gegenüber als Bemühen begründet, den anti-westlichen Drall dieser zwei Organisationen gewissermassen „unter Kontrolle“ zu halten. Bekanntlich sehen sich die BRICS-Staaten als wirtschaftliches und politisches Gegengewicht zur global dominierenden G-7.

Neueste Entwicklung

Vor dem Hintergrund dieser strategischen Interessenslage ist bedeutsam, dass sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den zwei Bevölkerungsgiganten Indien und China in jüngster Zeit in eine bemerkenswerte Richtung verändert, nämlich vertieft haben. China hat in Indiens Aussenhandel die USA als grössten Handelspartner abgelöst. Zusätzlich fordern Indiens grösste Unternehmen, dass die Regierung mit Konzessionen bei den Vorschriften für direkte Investitionen (FDI) und für die Einreise chinesischer Techniker den grossen Worten über das Industrialisierungsprogramm „Make in India“ auch Taten folgen lässt. Damit sieht sich Modi, der bei den letzten Wahlen einen wesentlichen Wählerverlust hinnehmen musste, in der innenpolitischen Zwangslage, Abstriche an seinem ideologisch getriebenen Anspruch vorzunehmen, gegenüber der strategischen Bedrohung aus China weiterhin den „starken Mann“ zu spielen. Denn in der Tat wird sich das Wirtschaftswachstum der jüngeren Zeit nicht aufrechterhalten lassen, ohne die jüngst eingebrochenen Zahlen ausländischer Investitionen aufzufangen. Chinesisches Knowhow mit gleichzeitigem chinesischem Kapital scheint für den Aufbau einer zukunftstauglichen Industriebasis unentbehrlich. Diese neuen Zwänge werden nicht ohne Auswirkungen auf Indiens geopolitische Optionen bleiben können.

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